Jahresgabe

Dear O (4)

Keta Gavasheli

Das Gemisch aus Leinwand, Gips und Beton erinnert an Trockenbaumodule, mal scheinen die Panels partiell frisch verputzt und teilisoliert, dann wieder wie von Wasserschäden gezeichnet. Der Titel der Reihe, Dear O, hebt die Bedeutung des gesprochenen Wortes in Keta Gavashelis Praxis hervor, steht für den Ausruf, die Ansprache, den offenen Mund, die Gegenrede und obstinate Symbolik eines gegenderten Buchstabens; auf die Oberflächen „tapeziert“ finden sich Textfragmente aus der Spoken-Word-Performance One-drop Reminder. Die Assoziation des Trockenbaus, der vorgefertigte Halbzeuge oft raumtrennend verbindet und im Bauprozess eine Übergangsphase markiert, lässt sich biografisch begründen (Gavasheli studierte zunächst Architektur) und verweist zugleich auf den inhaltlichen Kern dieser Arbeit: In Anlehnung an die Hinterhöfe in Tbilisi, die auch als „italienische“ Höfe bekannt sind aber in Wahrheit auf persische Karawansereien zurückgehen und in deren hybriden, heterogenen Architekturen sich Gavashelis Kindheit abspielte, sondiert Dear O die Schwelle zwischen Privatem und öffentlichem Raum, Vereinzelung und Verbundenheit, Individuum und Welt. Die Konfiguration des einzelnen, sich mitunter als isoliert wahrnehmenden Körpers, seine Involviertheit und unentwirrbare Koexistenz mit der Umwelt erkundend, greift Gavasheli neben konkreten baulichen Bezügen auf das Motiv des Wassers zurück, dem sich auch der feministische Posthumanismus gern bedient, um begrenzte Konzepte von Körperlichkeit aufzuweichen. So ist in jedes der fünf Panels ein Abflussloch eingelassen, seit der Pandemiezeit ein zentrales Element für Gavasheli: Eines Nachts im Lockdown wurde der Ablauf des heimischen Waschbeckens zum „Loophole“, entlang vertrackter Leitungen und Kanäle, die einzelne Wohneinheiten verbinden, schien hier alles unbeirrt und mit beruhigender Beständigkeit weiterzulaufen, wie in einem vitalen viszeralen System. In diesem Sinn kann Dear Oauch für das große „ozeanische Gefühl“ stehen, mit dem Romain Rolland einst das Erlebnis des „Eins-Seins mit der äußeren Welt als Ganzes“ beschrieb, oder für die kleine Öffnung im Waschbecken, die als Schnittstelle zu den Infrastrukturen dahinter die ganze Welt erahnen lässt: Um im Bild des Wassers zu bleiben, läuft hier beides weitgehend aufs Gleiche hinaus.
– Anna Sinofzik